Es gibt keinen Grund, nicht Tagebuch zu schreiben.

Januar ist ohne Zweifel der Monat, in dem die meisten guten Vorsätze gemacht werden. Wer regelmäßig ins Fitnessstudio geht, wird das kennen. (Apropos, zum Thema Fitnessstudio habe ich mal was geschrieben.) Auch der Anbieter meines Haus und Hof-Tagebuchs, Day One, verzeichnet zum neuen Jahr die meisten Neu-Abonnements. Sich den guten Vorsatz zu nehmen, Tagebuch zu schreiben, ein völlig abwegiger Gedanke für die Blog-Gemeinschaft. Genauso abwegig wäre es allerdings für Sportler, sich regelmäßig an die Hanteln zwingen zu müssen. Diese Leute wollen Sport machen. Komischer Gedanke, ich weiß.

Aber ich schweife ab. Tagebuch also. Wer regelmäßiger Gedanken in Text gießen will, wird sich früher oder später fragen: Welche denn? Naheliegend ist es, täglich über den eigenen Tag zu schreiben, aber man wird schnell feststellen: Da herrscht ziemlich viel Alltag (außer man ist Influencer, da ist selbstverständlich jeder Tag ein neues Abenteuer). Worüber also schreiben, und dann auch noch etwas, für das man sich auch nach Jahren interessiert?

Das war eine überaus lange Vorrede für die Empfehlung der Podcast-Episode „A New Year of Journaling: Exploring Creative Ways to Use Day One“ (auf Englisch). Darin sprechen zwei aktuelle bzw. ehemalige Angestellte von Day One über kreativere Ideen abseits des „heute ist xy passiert“. Egal, welches Programm man fürs Schreiben nutzt, die Ideen sind natürlich universell und weitestgehend auch in Papiertagebüchern umsetzbar.

Wie wäre es zum Beispiel mit einem Koch-Tagebuch? Oder einem Wander-Tagebuch? Ein Wein- oder Cocktail-Tagebuch? Ein Tagebuch der geschauten Filme und Serien! Oder eines über die drei positiven Dinge des Tages, Klassiker. Aber ein Tagebuch über die drei unerwarteten Dinge des Tages? Das wäre mal was neues. Eine andere Idee ist es, die Familiengeschichte nachzuzeichnen, also die Einträge in die Vergangenheit zu datieren und wichtige Geburten, Hochzeiten und Lebensereignisse der eigenen Ahnen aufzuschreiben. Ein Wochenplan. Ein Monatsplan. Eine Rückschau über die vergangene Woche/den letzten Monat. Ein tägliches Selfie. Ein eigenes Tagebuch, um die Wut über die Firma oder die bucklige Verwandtschaft mal so richtig rauszulassen. Ein Urlaubstagebuch.

Die Möglichkeiten sind endlos. Wer ein wenig Anregung wünscht, dem sei diese Folge empfohlen. (Die Audioqualität dieser Episode ist bisweilen leider etwas dürftig.)

Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.
– Mark Twain (unbelegbar)

Kollektive Euphorie, kollektive Identität oder: schwule asiatische Oldtimerfahrer, die jubelnd an europäischen Kassen bezahlen

Ich stehe im Supermarkt in der Schlange und inspiziere beim Bezahlen jede einzelne Münze ganz genau, ebenso das Wechselgeld. Die Kundin nach mir geht genauso vor, die Kassiererin ist sich ihrer Sache schon sicherer. Es ist Anfang Januar 2002, der Euro wurde gerade als Zahlungsmittel eingeführt.

Für wenige Tage entstand dadurch ein komischer Effekt: Wildfremde Menschen fühlten sich einander zugehörig und verbunden, weil anfangs niemand die 20- von den 50-Cent- und die ein Euro- von den zwei-Euro-Münzen unterscheiden konnte – und die Scheine sahen eh gleich aus. Wir waren mit dem Münzgeld alle überfordert, wie bis dahin bei jedem Kurzurlaub in den Niederlanden. Es wurde gelacht und sich angeregt über die neuen Münzen und Scheine unterhalten. Wir steckten gemeinsam im selben, harmlosen Schlamassel, waren über Nacht zu einer Art Leidensgruppe zusammengewachsen.

Effekte wie diesen gibt es überall: Busfahrer grüßen sich, weil sie im gleichen Unternehmen arbeiten, bei Motorrädern und Oldtimern ist es ebenso, im Stadion liegen sich Fans gleicher Mannschaften in den Armen, zum Jahreswechsel wünscht man Fremden alles Gute, in schwulen Szenekneipen fühle ich mich unter Gleichgesinnten und genauso kann es zugereisten Asiaten in allen Chinatowns dieser Welt gehen.

Was ist das für ein Phänomen?

In dieser Masterarbeit zur „Kollektiven Identität in der Europäischen Union“ (Uni Wien, 2013) versucht die Autorin ab Seite 11 eine Definition und benötigt dafür dreieinhalb Seiten. Sie schreibt, dass selbst mit einem thematisch eingeschränkten Blick, hier dem politikwissenschaftlichen, die Meinungen der Fachleute nicht nur auseinandergehen, sondern manchmal sogar gegensätzlich sind. Witzig, dass dieser scheinbar einfache Effekt wohl nicht klar definiert werden kann, jedenfalls damals noch nicht.

Eine der in der Arbeit genannten Quellen nennt fünf Anhaltspunkte, die das Gefühl einer kollektiven Identität begünstigen. Ich paraphrasiere:

  1. Menschen müssen das Gefühl haben, dass ihre eigene Identität zu der anderer Menschen passt.
  2. Daraus ergibt sich der Eindruck einer Gruppenidentität und damit eines Gruppenselbstbildes.
  3. Damit dieses bestehen bleiben kann, müssen die Gruppenmitglieder sich der Gruppe zugehörig fühlen können.
  4. Das Gruppenbild muss als „kostbar“ wahrgenommene Gemeinsamkeiten aufweisen, die also einen Mehrwert gegenüber dem Einzeldasein mitbringen. Bei sehr großen Gruppen (in dieser Arbeit geht es ja um die Europäische Union), in denen man viele oder die meisten Mitglieder nicht persönlich kennt, werden den anderen diese Gemeinsamkeiten einfach unterstellt.
  5. Es findet eine klare Abgrenzung zwischen „uns“ und „den anderen“ statt. Dafür wird eine Binnendefinition benötigt („wer sind wir“) und eine Außenabgrenzung („wer sind die anderen“).

Das ist also kollektive Identität, und damit ein eher langfristiges Gefühl innerhalb einer Gruppe. Beim Wechsel von der Deutschen Mark zum Euro entstand kollektive Euphorie, die vereinfacht gesagt das gleiche ist, nur kurzfristiger funktioniert. Übertragen auf die obigen Punkte sah das beim Eurowechsel so aus:

  1. Ich kenne mich mit den Münzen nicht aus und den Leuten vor und nach mir geht es genauso.
  2. Wir sitzen also im gleichen Boot.
  3. Wir lächeln entschuldigend, dass es an der Kasse länger dauert als normal. Mir ist das unangenehm, den anderen aber offensichtlich auch. Wir versichern uns gegenseitig, dass die längere Zeit kein Problem ist.
  4. Dadurch, dass wir plötzlich alle länger brauchen als normal, können wir verschmitzt darüber lächeln und scherzen. Niemand ist ausgenommen, sogar die Kassiererin hat noch ihre Probleme. Ich kenne die anderen Personen in der Schlange nicht, aber wir stecken irgendwie „unter einer Decke“.
  5. Ich unterstelle, dass dieses Problem in allen zwölf EU-Staaten entsteht, die zum 1. Januar 2002 den Euro eingeführt haben. „Die anderen“, das sind all diejenigen Länder, die keine Umstellung vorgenommen haben.

Die Übersetzung in einen realen Fall ist ziemlich einfach. Als ich das erste Mal über das Phänomen nachdachte, ging es mir aber nicht um diesen Eurowechsel, sondern um aktuelle Themen in unserer Gesellschaft. Wie war das in der Corona-Pandemie? Menschen klatschten auf Balkonen, gingen rücksichtsvoller miteinander um, passten aufeinander auf – man saß ja gemeinsam in der Tinte. Danach formten sich Gruppen, negativ ausgedrückt könnte man sie Lager nennen, die verschiedene Maßnahmen befürworteten oder ablehnten. Mir scheint, das waren vorwiegend Fälle kollektiver Euphorie, denn die meisten dieser Gruppierungen gibt es nicht mehr.

Und wie ist es in der aktuellen politischen Lage, in Deutschland, in Europa und international? Sprechen wir da noch von kollektiver Euphorie, die temporäre Begeisterung für ein Thema oder eine Sache mit sich bringt, oder sind wir da schon bei kollektiver Identität, die langfristigen Zusammenhalt in Gruppen und Gesellschaften fördert? Wird die euphorische Welle derjenigen, die antidemokratisch denken, handeln oder sogar wählen, bald auslaufen oder hat sich bereits eine Identität gebildet? Richten Parteien ihren Wahlkampf auf kurzzeitige Euphorie oder auf langfristige Identität aus?

In jedem Fall lassen sich mit diesen Effekten der eine oder andere Capitolsturm oder auch so manche Frustwahl erklären.

(Beim Nachschlagen von Infos zu den beiden Begriffen bin ich über einen dritten gestolpert, die soziale Kohäsion. Sie scheint noch langfristiger und vor allem breiter angelegt zu sein als die kollektive Identität, aber das ging mir für diesen Artikel doch etwas zu weit.)

Steht von Geburt an fest, welche Musik man lieben wird?

Zurzeit kann ich in meinem Umfeld dabei zusehen, wie sich langsam der Musikgeschmack von Kindern formt. Bei jedem Treffen singen sie unterschiedliche Lieder, darunter sind peppige deutsche Musik, Kindersongs, Rap, Rock und allerlei andere Stile.

Ich selbst wuchs mit einer CD von den Bläck Föös auf (die singen auf Kölsch), mit einer Schallplatte der Hippie-Band Canned Heat, Musical-Soundtracks und später den Fantastischen Vier. Trotzdem höre ich heute am liebsten elektronische Musik, in vielen verschiedenen Varianten, aber auch mal die alten Lieder, darunter sogar zwei-drei von Udo Jürgens.

Wie entwickelt sich wohl ein Musikgeschmack? Vielleicht hat jeder Mensch – seit Geburt oder antrainiert – eine gewisse Vorliebe bei Tönen und damit letztlich bei Musik: Melodisch, hämmernd, sphärisch, mit Fokus auf den Text und so weiter. Ich wäre neugierig, wie derlei Kriterien bei verschiedenen Menschen in einem Netzdiagramm aussähen. Und ob man daraus ableiten könnte, dass Menschen mit ähnlichen Ausprägungen tatsächlich auch die gleichen Lieder mögen.

Falls dem so wäre, könnten daraus klügere Vorschlagsalgorithmen gebaut werden, zum Beispiel für geteilte Listen oder über mehrere User hinweg. Denn bei mir ist das so: Ich mag zwar elektronische Musik, aber daraus leiten Algorithmen manchmal ab: „Der Typ mag jede elektronische Musik.“ Dabei ist das natürlich zu simpel gedacht. Und ich freue mich auf den Moment, wenn ich dem Streamingservice eines Tages genauere Angaben darüber machen kann, was ich mag und was nicht, und ich dann endlich keinen Dubstep mehr vorgeschlagen bekomme.