Der Tag, an dem ich auf der Toilette einschlief

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Eine kuriose Phantasiegeschichte in drei Teilen

Kapitel eins

»Aber schlaf nicht wieder ein!« rief Luise mir nach und die anderen lachten.

»Als ob mir das je passiert wäre!« Die blöde Kuh. Luise war die Schwester meiner Freundin Alexa und eine unglaublich laute und anstrengende Person. Sie unterschied sich von Alexa in so gut wie jeder Hinsicht, und so war es kein Wunder, dass sie es selten mit jemandem länger als ein paar Monate aushielt. Dafür fand sie aber auch bei jeder Gelegenheit einen neuen Freund, »diesmal wirklich für länger, er bedeutet mir so viel«. Luise machte kein Geheimnis aus der Tatsache, dass sie mich nicht leiden konnte. So nahm sie jede Möglichkeit wahr, mich zu nerven und als Langweiler oder Idiot darzustellen.

Ich hingegen hatte die Bemühungen, mich mit ihr wenigstens halbwegs zu verstehen, noch nicht ganz aufgegeben. Natürlich tat ich das für Alexa — denn eigentlich konnte Luise mir gestohlen bleiben.

Alexa und ich waren heute zu unserem zweiten Jahrestag mit ein paar netten Leuten und notgedrungen auch mit Luise ein wenig feiern: Erster Stopp war die Tapas-Bar um die Ecke gewesen (erst Tapas, dann Drinks), nächster Stopp die kleine, verrauchte Kneipe auf dem Weg (aber nur für ein Bierchen), und schlussendlich diese verranzte Disco in unserer Kleinstadt. Sie war die einzige, die vernünftige Musik spielte, also auch die einzige, in der es sich aushalten ließ. Ich bin weder ein Kneipen-, noch ein Discofreund, aber um eine Beziehung am Laufen zu halten muss man manchmal Kompromisse eingehen. Dieser Abend war definitiv einer, wenngleich die Tapas noch richtig Spaß gemacht hatten.

Nachtclubs aller Art zogen mich zwar nicht an, aber Alkohol trank ich trotzdem ab und zu ganz gerne. Ich sah mich allerdings eher als Genießer, weniger als Vertreter der »Füll rein was geht«-Fraktion. An diesem Abend allerdings hatte die komplette Mannschaft sich unter Luises Führung auf einen Kamikaze-Kurs gesoffen, der mein übliches Pensum um ein Vielfaches übertraf. Mit anderen Worten: Ich hatte gehörig einen in der Krone.

Der Wein zu den Tapas wurde gefolgt von ein paar Absackern, dem Bier auf dem Weg und in der Disco einer für mich nicht mehr bezifferbaren Anzahl von Cocktails und Shots quer durch die Karte. Wenn Luise eines beherrschte, dann war es die Beschaffung von Alkohol in nicht enden wollenden Mengen — ständig brachte sie neue farbenfrohe Gläser an unseren kleinen Stehtisch.

Nun stand ich in der Schlange derer, die sich auf öffentlichen Toiletten nicht trauen, im Stehen zu pinkeln, und wartete darauf, dass sich eine der vier Feiglingstüren öffnen würde. Nachdem gefühlte hundert Stehpinkler an mir vorbei gezogen waren, stolperte aus einer der Kabinen ein offensichtlich schwer betrunkener junger Mann heraus. Er hatte wohl eine ganze Zeit hinter dieser Tür verbracht, denn ich konnte eindeutig einen Handabdruck in seinem blassen Gesicht erkennen.

Ich schloss die Tür hinter mir, seufzte tief und setzte mich. Der Klositz vibrierte im Bass der Discomusik und die blaue Lampe an der Decke flimmerte leicht. Ich betrachtete all die kreativen und weniger originellen Schmierereien an der Klowand. Als ich die Augen schloss, gab es vor der Tür ein kleines Gerangel; vielleicht hatte jemand eine Längenwette am Urinal verloren.

Alles drehte sich.

Kapitel zwei

Als ich die Augen wieder öffnen wollte, passierte erst einmal gar nichts. Es blieb einfach schwarz. Kalt und hart waren meine ersten Gedanken. Ich hatte das Gefühl,irgendwo zu liegen. Erst beim zweiten Versuch öffneten sich langsam meine Augen. Sofort stach mir das grelle Licht der blauen Neonröhre direkt bis ins Gehirn.

Mein Gott, ist das hell! Ich befragte meinen Körper nach seinem Zustand: Kalt und hart waren immer noch die vorherrschenden Gefühle — mittlerweile jedoch vermischt mit leisen Magenschmerzen. Langsam richtete ich mich auf. Der Rücken schmerzte auch, die Augen… und erst der Kopf! Wo in aller Welt war ich?

Moment, ich bin doch aufs Klo gegangen. In dieser Disco. Bei der Party. Ach ja, die Party! Ich sah mich um.

Ich saß auf dem, was einmal weiße Kacheln gewesen waren, mittlerweile waren sie aber größtenteils vergilbt und einige auch gesprungen. Um mich herum sah ich vollgemalte Holzwände, die einen ähnlichen Farbprozess durchgemacht hatten wie der Boden. Außerdem hatte ich beim Liegen offenbar die Toilettenschüssel umarmt, die nur einen Sitz, aber keinen Deckel mehr hatte. Sie sah unbeschreiblich dreckig aus. Im gleichen Augenblick wurde mir übel, ich übergab mich ins Klo und dachte fortan über seine Anwesenheit weniger negativ.

Ist. Mir. Schlecht. Wie zur Hölle konnte ich hier einschlafen?! Ich suchte in den Hosentaschen nach meinem Handy und wollte es einschalten, erhielt aber nur die stumme Anzeige eines leeren Akkus auf dem Display. Ohne ein Ladekabel würde das Drecksding auch nichts anderes tun. Also versuchte ich, aufzustehen. Die ersten zwei Versuche schlugen jedoch fehl: Beim ersten Mal sackten mir die Beine weg, beim zweiten Mal stieß ich mir den Kopf an einem metallenen Garderobenhaken an der Toilettentür und fiel wieder hin.

»Scheiße!« brüllte ich. »Kein Klodeckel, aber so ein beschissener Haken!« Meine Worte hallten ein wenig im leeren Raum umher. Mein Schädel dröhnte.

Moment. Leer? Wie konnte das sein? Vorsichtig stand ich auf und rieb mir den Kopf. Das würde eine dicke Beule geben. Ich entriegelte die Tür und spähte nach draußen: Der Waschraum war tatsächlich leer! In einem der Pinkelbecken lief permament das Wasser, aber das war auch die einzige Bewegung außer mir.

»Hä?!« entfuhr es mir. Immerhin erkannte ich eindeutig die Toilette, auf die ich gerade erst gegangen war. Nach der starken Übelkeit gewann jetzt die Neugier Oberhand und ich schlich in die Disco zurück. Sie war ebenfalls menschenleer und still, nur ein paar kleine Lämpchen brannten. Leise ging ich über die düstere Tanzfläche zur Bar. Hier hatte ich vor ein paar Minuten meine Freunde zurück gelassen und jetzt waren sie zusammen mit allen anderen Gästen und der Musik spurlos verschwunden.

»Also das verstehe ich nicht!« rief ich verwirrt.

»Hallo?« tönte plötzlich eine Stimme aus den großen Lautsprechern der Musikanlage. Ich sprang vor Schreck in die Höhe und bekam sicher fast einen Herzinfarkt — zum Glück konnte ich mich am Tresen festhalten.

»Ja, hallo, wer ist da?« antwortete ich und war mir unsicher, ob ich die Antwort überhaupt wissen wollte.

»Warte, ich komm mal runter zu dir«, sagte es wieder aus den Lautsprechern, gefolgt von einem leisen Knacken. Es erschien ein kleiner Mann mit kahlem Kopf und fröhlichem Lächeln.

»Na, wen haben wir denn da?« fragte er, während er hinter dem Tresen verschwand. Ich konnte jetzt nur noch eine Glatze sehen.

»Schon lange keine Schnapsleiche mehr gehabt! Willste’n Bier?« fragte die Glatze, und ohne eine Antwort abzuwarten, stieg der Mann wohl auf ein kleines Bänkchen hinter dem Tresen, denn nun kam er bis zur Brust zum Vorschein. Er begann, zwei Bier zu zapfen.

»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich muss hier ab und zu die Technik prüfen und weil gestern Abend schon Probleme aufgetreten sind, habe ich die Anlage eben noch einmal aufgedreht.« Sein Kopf glänzte im Schein der spärlichen Beleuchtung und er schob mir immer noch lächelnd ein volles Weizenglas hin. Mein Magen rebellierte schon beim bloßen Gedanken daran.

»Ääähm«, brachte ich hervor, »wie viel Uhr ist es?«

»Das erste Bier ist immer noch das beste! Aaahh, lecker. Acht Uhr ist es! Und bevor du fragst: Es ist Samstag. Heute geht’s also nicht vor zehn los.»

»Was geht los?«

»Na die Gäste. Die Musik, die Party!«

»Heißt das, es ist acht Uhr abends?!«

»Na klar. Glaubst du, ich würde hier um acht Uhr morgens rumlaufen? Da bin ich noch nicht mal im Bett!«

»Okay… Und es ist Samstag, hast du gesagt?« Mein Kopf hämmerte. Das war zu viel Denken und zu viel Kommunikation für meinen Zustand. Glatze beäugte mich fragend. Offensichtlich war er sich nicht ganz klar, was er von mir halten sollte — ihm ging es also genau wie mir.

»Du hast einen ganz schönen Schuss weg, oder? Ja, es ist Samstag. Samstagabend. Willst du dein Bier nicht? Geht aufs Haus!« Er grinste und ich war mir sicher, dass seine Position ihn nicht zu solchen Handlungen ermächtigte.

»Nee danke«, wehrte ich müde ab, »aber kann ich vielleicht mein Handy hier irgendwo laden?« Glatze stellte sein mittlerweile leeres Glas weg und nahm sich nun meins vor. Nach einem ausgiebigen Schluck zog er ein ganzes Bündel Kabel aus einer Schublade in der Bar hervor.

»Klar. Wir haben hier Kabel für alle Modelle, die Barkeeper brauchen die auch immer.« Wir steckten mein Handy an und die Ladeanzeige erschien im Display. In spätestens zehn Minuten würde ich endlich telefonieren können.

»Warst du gestern Abend auch schon hier?« Ich musste mich konzentrieren, denn mein Magen gab mir eine neue Auswurfanmeldung bekannt.

»Jepp. Wie gesagt, gestern gab es Probleme mit der Techn—«

»Super«, unterbrach ich ihn, »du kannst dich nicht zufällig an mich erinnern? Ich stand dort hinten an der Bar.« Sein Blick folgte meinem ausgestreckten Zeigefinger.

»Nee, Mann. Ich sehe so viele Leute… Oder hattest du Frauen dabei?« Bei dem Wort leuchteten seine Augen, während ich die meinen in Gedanken verdrehte. Auch noch ein Frauenheld.

»Ja, tatsächlich. Sie sahen sogar gut aus.« Glatze zeigte sich begeistert. »Eine war groß und schlank, hatte rote, lange Haare und trug ein braunes Kleid.« Dabei handelte es sich um Alexa.

»An die erinnere ich mich! Die kam mit ein paar Leuten gegen elf. Alle waren schon ganz gut dabei, sag ich dir, aber nicht gut genug, um mich auch mal ran zu lassen, ich hab von der einen sogar eine gescheuert bekommen.« Während Glatze sich an die Wange fasste und den Moment noch einmal erlebte — dabei lächelte er abwesend — war ich mir sicher, dass es sich hier um meine Freunde handeln musste und natürlich um Luise, die keiner schlagfertigen Auseinandersetzung aus dem Weg ging.

»Und wann sind sie gegangen?« Mein Magen meldete den Schüssel- oder Eimerbedarf nun etwas heftiger an und mir war klar, dass es gleich los ging. Glatze erwachte derweil aus seinem Tagtraum.

»Lass mal nachdenken… um zwölf musste ich kurz runter zur Technik, und als ich wieder kam, war die Rotbraune nicht mehr da.« Diese Bezeichnung musste ich mir unbedingt merken — Alexa würde sich freuen.

»Das bedeutet, dass die echt ohne mich gegangen sind«, sagte ich mehr zu mir selbst.

»Du wurdest wohl nicht vermisst. Auf die Party ohne dich!« Glatze prostete der leeren Tanzfläche zu und leerte das zweite Glas zur Hälfte. Ich bekam Magenkrämpfe. Während ich hastig zur Toilette zurück lief, hörte ich noch, wie Glatze sich wieder am Zapfhahn zu schaffen machte und mir hinterher lachte. »Du Schlappschwanz!«

Der Geschmack in meinem Mund war unglaublich. Was hatte ich denn alles gegessen?! Während die Klospülung lief und ich mir am Waschbecken das Gesicht wusch, hörte ich plötzlich aus einer der anderen Kabinen ein leises Stöhnen.

»Ooooh… meeiiinnn… Gooottt…« sagte die Stimme langsam. Ich konnte mir schon denken, wie es demjenigen dort ging und ließ ihm etwas Zeit.

»Hallo?« fragte ich dann vorsichtig.

»Wo bin ich?« Seine Stimme wurde von den vergilbten Kacheln im Waschraum zurückgeworfen.

»Du hast wohl auf einem Klo übernachtet. Es ist Samstagab—« Ein Würgen unterbrach mich und obwohl es mir echt dreckig ging, musste ich grinsen. Nachdem er sich übergeben hatte, entriegelte er die Tür. Heraus kam ein kreidebleicher Typ, er sah sterbenselend aus.

»Wie viel Uhr ist es?«

Kapitel drei

Wenig später betraten wir zusammen die leere Tanzfläche. Wir hatten uns einander vorgestellt, er hieß Chris, und ich hatte ihm die Situation erklärt: Die Uhrzeit, den Wochentag, wie ich hierher gekommen war und dass da draußen ein kleiner Taugenichts mit einem Alkoholproblem auf uns wartete.

Glatze saß nun vor der Theke auf einem Barstuhl und telefonierte. Vor ihm stand natürlich ein Bier. Als er Chris neben mir erblickte, begann er so stark zu lachen, dass er fast von seinem Stuhl fiel.

»Das ist mir ja in fünfzehn Jahren nicht passiert! Kommt her, kommt her, hier gibt es Bier.« Er hielt sich wieder das Handy ans Ohr.

»Da ist noch einer aus dem Klo gekommen… Ja, ein zweiter… Keine Ahnung, warte mal. Ey, wie heißt du?« Die Frage ging an Chris, der sie müde beantwortete. Er sah gar nicht gut aus.

»Er sagt, er heißt Chris… Ach, den vermisst ihr auch? Sag mal, ist euch das Bier nicht bekommen?… Ja, der steht auch hier… Okay.« Glatze reichte mir das Telefon.

»Ist für dich. Hat geklingelt, als du weg warst.« Erst jetzt fiel mir auf, dass er die ganze Zeit mein Handy benutzt hatte.

»Hallo?« Ich hoffte, es wäre Alexa, aber stattdessen hatte ich Luise am Telefon.

»Hey, Waschlappen, gut geschlafen?«

»Wo ist Alexa?«

»Unterwegs zur Polizei, die will dich als vermisst melden. Dabei vermisst dich gar keiner…«

»Ach, halt deine blöde Klappe. Ich bin auf dem Klo der Disco aufgewacht, hab hier wohl fast einen ganzen Tag gepennt! Mir gehts so beschissen!«

»Ich werds mir merken, Alter«, sagte sie.

»Wie meinst du das?!«

»Na weißt du, du bist doch immer so langweilig.« Ich schluckte das, was ich sagen wollte, lieber herunter. »Und deshalb dachte ich, ich mache aus dir mal ein Partygirl.«

»Ein WAS?«

»Jedenfalls habe ich dir und ein paar anderen was in den Cocktail getan. Keine Ahnung, wie das Zeug hieß, aber es hat wohl auch nicht so gut funktioniert.«

Jetzt brüllte ich ins Telefon: »DU HAST MICH UNTER DROGEN GESETZT?!«

»Ach komm, es war doch ganz witzig. Also, für alle anderen. Bis du abgehauen bist.«

»Du spinnst ja völlig!«

»Höre ich nicht zum ersten Mal. Hey, gibst du mir mal kurz den Chris? Den hab ich gestern an der Bar kennen gelernt. Ich glaube, diesmal ist es für länger, er bedeutet mir was.« Ich legte auf und wandte mich an Chris.

»Deine neue Freundin hat uns irgendwelche Drogen in den Alkohol gemischt. Willkommen in der Luise-Hölle.« Chris allerdings verzog das Gesicht, würgte und rannte zurück zur Toilette.

»Raus mit allem, was keine Miete zahlt!« rief Glatze ihm nach. Ich wählte währenddessen Alexas Nummer und erklärte ihr, was geschehen war. Sie war sehr erleichtert und weinte sogar am Telefon. Von ihr erfuhr ich dann auch den Rest der Geschichte: Luise hatte ihr erzählt, dass sie gesehen hätte, wie ich mit ein paar anderen die Bar verlassen hätte. Ich war die ganze Nacht nichts ans Handy gegangen und dann war wohl der Akku leer gewesen. Die ganze Familie hatte mich am nächsten Tag gesucht, alle waren außer sich vor Sorge. Luise hatte immer wieder gesagt, dass man mich schon noch finden würde, sich aber nicht besonders bei der Suche engagiert sondern immer versucht, einen Typ anzurufen, den sie in der Disco kennengelernt hatte.

»Weißt du was, Glatze?» sagte ich, nachdem alles geklärt war, »jetzt nehm ich doch ein kleines Bier.«

»Wie hast du mich genannt?« fragte er lachend und verschwand hinter der Theke. Im gleichen Moment erschien Chris mit einem blassen Typen auf der Tanzfläche.

»Das ist Mario. Ich habe ihn auf der Toilette gefunden.«

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