Carsten ist meinem Aufruf gefolgt und hat eine Geschichte aus der Kategorie „Einmalige Erlebnisse“ geschickt, die ich mit Freunde und seiner Erlaubnis hier ebenfalls veröffentliche!
Es begab sich um 1983, genau weiß ich es nicht mehr, ist auch egal, in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre halt. Jede freie Stunde widmete ich der Eisenbahn: ich bastelte stundenlang an meiner Modelleisenbahn, so ziemlich jedes Wochenende verbrachte ich bei der Dampfkleinbahn und viele Nachmittage zusammen mit meinem ebenfalls bahnbegeisterten Freund Uwe am Bahnhof Hillegossen, wo wir uns mit dem örtlichen Bahnbeamten angefreundet hatten. Der Hillegosser Bahnhof liegt unweit meines Elternhauses an der Nebenbahn von Bielefeld nach Lemgo, für den unwahrscheinlichen Fall, dass es jemanden interessiert.
Zu der Zeit, von der ich singen und sagen will, war fast jeder Bahnhof an dieser Strecke mit einem Bahnbeamten besetzt, der über große Hebel Weichen und Signale stellte, außerdem verkaufte er an einem Schalter Fahrkarten, damals noch so kleine braune Pappdinger, nicht viel größer als zwei Briefmarken. Die Züge, meistens von einer Diesellok der Baureihe 211 gezogene grüne Umbauwagen aus den Fünfzigerjahren mit rotbraunen Kunstledersitzen, bei denen sich selbstverständlich noch die Fenster öffnen ließen, zuckelten mit 60 km/h durch die Landschaft, von Samstagnachmittag bis Montag früh war Betriebsruhe.
Ab und zu gelüstete es uns, Uwe und mich, mal wieder mit „unserer“ Bahn nach Lemgo zu fahren, den Kopf aus dem Fenster zu halten und uns die Dieselschwaden der Lok um die Nase wehen zu lassen, die Fahrkarte dafür war auch für Schüler erschwinglich. Meist gingen wir vor Abfahrt nach vorne zur Lok und fragten, ob wir auf dieser mitfahren durften, was natürlich streng verboten war, dementsprechend beschieden die meisten Lokführer unser Anliegen abschlägig, was wir keinem übel nahmen. Die meisten, aber nicht alle – manche fragten, ob wir eine Fahrkarte hätten und ließen uns rauf.
So auch an diesem Sommertag. Wir warteten schon am vorderen Bahnsteigende in Hillegossen auf den Zug, dort, wo die Lok halten würde. Pünktlich fuhr der Zug ein, und wir hatten Glück, ein freundlicher älterer Lokführer erlaubte uns, die Lok zu besteigen, nach der Fahrkarte fragte er nicht („Der dahinten [gemeint war der Zugführer] hat hier vorne nichts zu sagen“), und los ging’s. Nach etwa halbstündiger Fahrt mit Halten in Ubbedissen, Oerlinghausen, Helpup, Ehlenbruch, Lage und Hörstmar kamen wir planmäßig in Lemgo an, wo wir kurz in die Stadt und mit einem späteren Zug zurück fahren wollten. Daraus wurde nichts.
„Wenn ihr wollt, könnt ihr drauf bleiben, ich fahre gleich leer zurück nach Bielefeld.“ Leer hieß, nur die Lok, die Wagen blieben in Lemgo, wo sie später mit einem anderen Zug vereinigt wurden. Das ließen wir uns natürlich nicht entgehen! Kurz vor Abfahrt, das Ausfahrtsignal in Richtung Lage zeigte bereits „Fahrt frei“, erhob sich der Lokführer von seinem Sitz und fragte: „Wer fährt denn jetzt? Ich jedenfalls nicht.“ Wir sollten die Lok fahren? Hammer! Nun gehörte die Bedienung einer 211 nicht zu dem, was man uns bis dahin in der Schule beigebracht hatte, eine durch nichts zu entschuldigende Lücke im Lehrplan, daher erklärte er es uns, im Grunde war es nicht schwierig: Es gibt kein Gas-, Brems- und Kupplungspedal, stattdessen wähl man die Fahrstufe über ein Handrad und die Bremse wird über einen Handhebel auf der rechten Seite bedient; da es keines Lenkrades bedarf, hat man ja die Hände frei. Gleichwohl kommt auch das Lokführen nicht ganz ohne Fußarbeit aus: während der Fahrt ruht der Fuß auf einer Taste, in regelmäßigen Abständen hebt man ihn kurz an und signalisiert der Maschine damit, dass man nicht eingeschlafen oder gestorben ist, auf dass der Zug nicht führerlos durch die lippischen Weiten rase. Vergisst man das mal, leuchtet erst eine Lampe, dann kommt ein Warnton, und sollte man tatsächlich das zeitliche gesegnet haben, erfolgt eine Zwangsbremsung.
Sehen Sie, nun haben Sie wieder was dazugelernt. Wenn Sie das nächste Mal im Hauptbahnhof von einem in Eile befindlichen Lokführer gefragt werden, ob Sie wohl so freundlich sein könnten, seine Diesellok ins Betriebswerk zu fahren, er sei spät dran und müsse noch Kakteendünger kaufen, ehe die Läden schließen, so müssen Sie die vorgetragene Bitte nicht länger mit einem bedauernden Schulterzucken abschlagen, sondern erinnern sich kurz dieses Textes und schreiten zur Tat. Sollten Ihr Wissen weitere bahnspezifische Lücken aufweisen, etwa wie man in Bahnhöfen an eingleisigen Strecken eine Zugkreuzung durchführt, scheuen Sie sich nicht, zu fragen. Die Frage, was ‚Verzögerungen im Betriebsablauf‘ sind, welche die Deutsche Bahn so gerne der Verspätungen bezichtigt, erübrigt sich allerdings, das ist bloß eine inhaltsfreie Bahnbegriffsblase des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Doch zurück nach Lemgo: Etwas unsicher nahm ich auf dem Führersitz Platz, löste die Bremse und schaltete auf die mir geheißene Fahrstufe; der Dieselmotor brummte auf und die Lok setze sich in Bewegung, ein unbeschreibliches Gefühl für einen etwa sechzehnjährigen Bahnbekloppten! Die Leer-Rückfahrt ging nicht über die Nebenbahn via Hillegossen, sondern in Lage wechselten wir auf die Strecke nach Herford. Hinter Lage, vielleicht in Bad Salzuflen, ich weiß es nicht mehr, übernahm Uwe das Steuer beziehungsweise Fahrstufenhandrad bis Herford. Dort dann Fahrtrichtungswechsel, das letzte Stück über die Hauptbahn bis Bielefeld übernahm der „Meister“.
Als wir schließlich in Bielefeld von der Lok stiegen, konnte ich noch gar nicht fassen, was uns widerfahren war, andererseits nichts, womit ich bei den Mitschülern Eindruck schinden konnte, für die war mein Hobby immer etwas wunderlich, womit sie wohl nicht ganz unrecht hatten. Später hatte ich noch oft Gelegenheit, eine Lok zu fahren, vor allem bei der Dampfkleinbahn. Aber diese Fahrt einer Bundesbahn-211 durch das Lipperland blieb etwas ganz besonderes.
Heute fährt die Nordwestbahn mit modernen klimatisierten Triebzügen im Stundentakt zwischen Bielefeld und Lemgo, auch spätabends und Sonntags, in Hillegossen halten schon lange keine Züge mehr. Nach einer Mitfahrt vorne beim Fahrer würde ich heute wohl nicht mehr fragen. Statt örtlicher Bahnbeamter nur noch Fahrkartenautomaten. Immerhin, es fahren noch Züge, mehr als je zuvor, das ist erfreulich und allemal besser als ein Radweg auf stillgelegter Bahntrasse. So gesehen will ich nicht zu sehr den alten Zeiten hinterherschwelgen. Aber schön war es doch.