Diese Zeit im Herbst mag ich sehr gerne. Abends ist es früh dunkel, manche Blätter knacken unter den Schuhen, es duftet nach nassem Laub. Wenn ich, wie heute, nach dem Essen einen Spaziergang durchs Dörfchen mache, begegne ich nur wenigen Menschen. Die meisten führen einen Hund aus oder eilen im Nieselregen mit ihren Einkäufen nach Hause. Offensichtliche Spaziergänger wie mich sehe ich fast nie, dabei gibt es doch gerade an diesen Abenden so viel zu erleben.
Ich schaue zum Beispiel gerne in die beleuchteten Fenster der Häuser: Viele Fernseher laufen, Nachrichten oder Spielfilme, selten entdecke ich auch mal ein Konsolenspiel. Oft sitzen die Menschen an ihren Tischen, essen, unterhalten sich, tippen an Laptops. In einer Erdgeschosswohnung steht ein großes Aquarium, daneben hängt ein riesiger Fernseher an der Wand, der fast immer eingeschaltet ist. In einer anderen Wohnung puzzelt ein älteres Ehepaar oft bei einem Glas Wein, manchmal haben sie auch Besuch. Woanders sitzt eine Frau fast immer allein vor einem Computer und klickt sich durch inhaltsleere Spiele.
Heute ging ich an einer Hofeinfahrt vorbei und roch plötzlich abgestandene, leicht feuchte Luft, vermischt mit Zigarettenqualm. Der Geruch erinnerte mich an meine Jugend und meinen Klassenkameraden M, mit dem ich ein paar Jahre viel unternahm. Seine Mutter saß immer in ihrer kleinen Küche an einem winzigen Tischchen, löste Kreuzworträtsel und rauchte. In der Wohnung roch es ganz genau so. Von M lernte ich interessante Dinge, zum Beispiel, dass Milch nicht immer in den Kühlschrank gehört: H-Milch war mir bis dahin einfach nie begegnet. Wir mixten uns damit riesige Becher überdosierten Kakaos und verbrauchten zu zweit einen ganzen Liter.
Einige Häuser weiter dann auf einmal Cannabis-Geruch. Das war lustig, weil es mich gedanklich mit M einige Jahre nach vorn schob: Da zeigte er mir die örtliche Drogenhöhle, wo müde Jungerwachsene auf abgewetzten Sofas herumlungerten und allerlei Zeug zu sich nahmen – und das ausgerechnet einen Steinwurf von der Kirche entfernt. Ich erinnere mich, wie sie sich damals darüber beschwerten, ihr Dealer habe ihnen Oregano angedreht statt Cannabis, und ich versuchte, nicht zu lachen. Wie das wohl schmecken mag?
Auch wenn es in der kalten Jahreszeit abends immer dunkel ist und oft auch windig oder regnerisch, sind diese Spaziergänge doch jedes Mal anders. Großen Einfluss haben die jeweils aktuellen Feste: Jetzt, wo Halloween vor der Tür steht, findet man vereinzelt Kürbisse und Gruseldeko. Auf dem Dorfplatz sind außerdem Zelte aufgebaut und Bierfässer bereits hoch aufgestapelt, bald werden sie hier wieder lachend durch die Fußgängerzone taumeln und die Musik bis in mein Wohnzimmer wummern. Ich komme mir dann immer vor wie in Stardew Valley, wo ausnahmslos das gesamte Dorf feiert. Mehrmals im Jahr, zu festgelegten Zeiten, immer mit viel Aufwand und tags darauf ist es als wäre nie was gewesen. Schöne Traditionen.
Geht es auf Weihnachten zu, ploppen natürlich allerorten Weihnachtsbeleuchtungen auf und die Straßen sind weniger dunkel und eintönig. Manche sind dezent, andere ausladend oder sogar übertrieben. Sie alle wollen die Abende ein wenig schöner machen und ich freue mich jedes Mal darüber. Ein bisschen Licht hilft in dunklen Zeiten, das wusste schon Gandalf. Was aber auch heute schon hell erleuchtet war: das neue italienische Café im Ort, bei dem es an manchen Abenden echt italienische Pizza gibt. Ich stand eine Weile draußen, Blätter wehten mir um die Beine, und schaute den Gästen zu, wie sie sich unterhielten, tranken und lachten.
Ob es nun Beleuchtungen, gemeinsames Puzzeln oder der Gang zur Dorfdisco ist: Ich mag all diese kleinen Inseln der Menschlichkeit.