Dezember also. Jedes Jahr ein etwas spezieller Monat. In meiner – völlig beschränkten – Weltsicht bereitet sich die Menschheit in der ersten Dezemberhälfte auf die zweite vor, das allein ist schon ausreichend komisch. Vielerorts zielen Planungen und Vorbereitungen maßgeblich auf einige wenige Tage ab, vielleicht sogar nur einen einzigen Abend, den irgendwer irgendwann einmal heilig nannte und seither ist das eben so. Tradition. Nichtsdestotrotz: Ich mag die Weihnachtszeit. Hauptsächlich, weil ich in dem Leben, das ich gerade lebe, da nicht mal mehr arbeiten muss und die Tage in den vergangenen Jahren die mit Abstand ruhigsten des Jahres waren, äußerst entspannend.
Dieses Jahr war die Zeit anders geplant, mit einer Reise zur Familie, was zweifellos weniger ruhig aber auch schön geworden wäre. Eine Verkettung von Umständen führt jedoch dazu, dass ich über die Feiertage nicht nur nicht mit dem Inhalt unzähliger Raclettepfännchen im Magen auf der Couch liege, während Teile der jüngeren Familie um mich herum springen. Ich verbringe die Zeit auch nicht in trauter Zweisamkeit, sondern liege daheim auf der Couch, allein, mit dem Inhalt einer Dose Kartoffelsalat samt Siedewürstchen im Magen, während die Stromsparfunktion des Fernsehers alle paar Stunden ankündigt, das Gerät werde gleich sicherheitshalber ausgeschaltet, denn ich sei bestimmt nicht mehr anwesend oder eingeschlafen. Natürlich interveniere ich jedes Mal gegen diese Bevormundung.
Die Feiertage allein zu Hause zu feiern fände ich schrecklich, glaube ich. Aber ich feiere sie nicht, die Zeit zieht stattdessen dekorationslos an mir vorbei. Okay, abgesehen von der Kindheitserinnerungsauffrischung mit dem Kartoffelsalat, die kleine Besonderheit lasse ich mir nicht nehmen – und das Essen ist sehr lecker. Wenn ich auch nicht viel davon schmecke, denn ich bin in den Tagen schwer erkältet. Sogar der Kaffee schmeckt seifig, was ich unverschämt finde. (Hier bitte ein energisches Faustfuchteln in Richtung Himmel vorstellen.) So komme ich also auch in diesem Jahr zu meinen äußerst ruhigen Weihnachtstagen, anders als gedacht und wegen Kopfwattig- und Kurzatmigkeit auch ganz besonders schrittzahlminimiert.
Und was war sonst so? Die halbe Belegschaft scheint krank zu sein, zu werden oder gerade gewesen zu sein. Oft ist auch eine Covid-Erkrankung der Grund fürs Fehlen, was vielen der Anwesenden bei der Weihnachtsfeier ein mulmiges Gefühl macht. Die Feier findet teilweise draußen statt und die Tische nah bei den Heizpilzen sind überraschend gut frequentiert. Möglicherweise kommt meine Erkältung daher. In solchen Phasen denke ich neidvoll an die Menschen, die einfach komplett von zu Hause arbeiten können und sich nicht in Nahverkehrs- und Büroseuchengebiete begeben müssen.
In der erweiterten Familie findet eine Beerdigung statt. Wegen Körperlichkeiten kann ich daran nicht teilnehmen. Wie mir später berichtet wird, sind sehr viele Personen anwesend, was mich freut, aber von unserem Familienzweig viel zu wenige, was mich traurig macht; ich ärgere mich über mich selbst, es wäre richtig gewesen, dort zu sein. Zu dem Thema passt eine traurigschöne Geschichte, die ich bei „Zwischen Tiber und Taunus“ gelesen habe: Am Schluss die Getränkekisten.
Im Dezember beende ich den ersten Teil von „The Poppy War“ von Rebecca F. Kuang, der deutsche Titel des Buchs lautet „Im Zeichen der Mohnblume – Die Schamanin“. Die Printausgabe hat etwa 670 Seiten und ist damit viel dicker als die Bücher, die ich sonst so lese. Als ich den Plot einmal beim Essen umreiße, fällt mir auf, wie sehr er zu Beginn dem von Harry Potter ähnelt: Ein begabtes Mädchen erhält überraschend die Möglichkeit, in einer Eliteschule ausgebildet zu werden, ist dort weder von Mitschülern noch vom Lehrpersonal akzeptiert und erfährt irgendwann von einer tief in ihr schlummernden Macht, die sich bald unkontrolliert Bahn bricht. Soso! Spätestens ab der Mitte löst die Geschichte sich von der hoffentlich ungewollten Parallele, wird immer abgefahrener und auch brutaler. Eine krasse Fantasy-Story, ich bin auf den zweiten Teil gespannt. Den ersten Teil las ich auf Englisch und musste überraschend oft Vokabeln nachschlagen, die mir fürs konkrete Verständnis fehlten. Den zweiten Teil habe ich mir schon auf Deutsch besorgt.
Ein ganz anderes Lesestück ist „Genau richtig“ von Jostein Gaarder. Der Autor ist mir seit den 90ern bekannt, denn an „Sofies Welt“ kam damals niemand vorbei: Das war ein fürchterliches Buch, schrecklich langweilig und langatmig, und ständig die bohrende Frage, weshalb so viele Menschen auf das Buch abfuhren. Heute glaube ich, es war einfach ein Trend und niemand mochte das Buch ernsthaft. „Genau richtig“ kommt aus der thematisch gleichen Ecke, es ist ebenfalls philosophisch angelegt und ich gehe mit mehr offenen Fragen aus dem Buch raus als rein. Aber es hat eine angenehme Länge und ist an einem Nachmittag durchzulesen. Außerdem geschieht in dem Buch richtig was, mir gefällt es gut.
Im Dezember folge ich meinem neu entbrannten Faible fürs Puzzeln weiter. Ein Motiv ist überraschend nervig: Ein Leuchtturm auf einer von wildem Wasser umgebenen, dunklen Insel vor düsterem Himmel. Überhaupt ist da alles düster, die meisten Teile sind entweder Himmel oder Wasser, auch ein bisschen Insel, aber alles sieht gleich aus. Tausend Teile und dann auch noch so ein deprimierendes Motiv. Gleich nach Fertigstellung nehme ich das Puzzle wieder auseinander und beschließe, es nicht nochmal zu puzzeln. Steht hier jemand auf düstere Bilder? Ich hätte eines abzugeben. Vom nächsten Puzzle, Murano, sind schon der Rahmen und ein herrlich schöner, stahlblauer Himmel fertig.
Dieses Jahr finde ich mich wesentlich häufiger auf einem Weihnachtsmarkt wieder als geplant. Um genau zu sein hatte ich diesbezüglich gar nichts geplant und es ist wohl auch erst dann ein Problem, wenn die Budenbesitzer einen mit Namen begrüßen. Dazu kommt es immerhin nicht. Der Weihnachtsmarkt hier im Dörfchen findet an einem einzigen Abend statt und ich bin wohl zu spät vor Ort: Es wummert DJ Ötzi, alle sind reichlich angetrunken und schunkeln um die dreieinhalb Buden, die auf dem Dorfplatz stehen, dort gibt es Kartoffelpuffer, Glühwein und, ominös, Burger. Kommendes Jahr gehe ich vielleicht etwas früher am Tag hin, ich hoffe auf mehr Weihnachts- und weniger Dorfbesäufnischarakter. Trotzdem schön, dass dieses kleine Fest hier überhaupt organisiert wird.
Zum Urlaubsbeginn treffe ich eine frühere Kollegin, mit der ich vor über 15 Jahren in einer Unternehmensberatung zusammen gearbeitet habe. Es war damals eine sehr stressige Zeit und wir hatten mehrere Momente, in denen uns nur noch galoppierender Wahnsinn blieb. Ich erinnere mich an eine Situation, in der wir im Kopierraum auf dem Boden saßen und Tränen lachten, während im Hintergrund eines der Geräte unbremsbar fehlerhafte Drucke ausspuckte, die längst hätten weiterverarbeitet sein müssen. Heute können wir weiter darüber lachen, auch wenn vieles in der Zeit eher zum Heulen war. Wir verabreden uns, bald einmal mit anderen früheren Kolleginnen auszugehen, ich freue mich darauf.
Und das war der Dezember. Ich hoffe, ihr seid gut ins neue Jahr gekommen, so wie es euch beliebt – gemütlich schlafend, hart feiernd oder irgendwas dazwischen. Ich wünsche uns allen ein gutes 2024 und schließe mit einem Zitat, das ich irgendwann irgendwo las:
Nothing in life is to be feared, it is only to be understood. Now is the time to understand more, so that we may fear less.
— Marie Curie
Lieber Thomas, ich wünsche dir einen angenehmen Start in dieses Jahr 2024 voller Gesundheit, cremig-nussig-schokoladig schmeckenden Kaffee und ganz vielen, wunderbaren Momente und bedanke mich bei dir für die wundervolle Erwähnung. Hab’s fein und liebe Grüße, Eva
Liebe Eva, was für ein schönes Bild, cremig-nussig-schokoladig schmeckender Kaffee… mmmh. Das passt zu dem Wetter gerade. Ich danke dir für den schönen Text, er gefiel mir sehr gut. Viele Grüße, Thomas