Sich Freiräume nehmen. Dieses Motto zog sich versehentlich im Untergrund durch meinen kompletten Juni. Hier und da tauchte es plötzlich auf, und überraschte auch mich selbst, zum Beispiel, als ich gerade diesen Satz in meinem Tagebuch fand:
Ich wollte die Wohnung aufräumen, aber ich prokrastinierte und schlief noch am Vormittag beim Lesen ein.
Ich mag, wie ich hier in aller Kürze vom Geplanten abdrifte. Lesen ist Aufräumen im Gehirn, Schlafen ebenfalls, alles richtig gemacht.
Ach, Thema Gehirnaufräumen: Anfang Juni war Europawahl, und dass mir dieses schauderhafte Erlebnis schon viel länger her zu sein scheint, zeigt, wie sehr ich es gerne verdrängen möchte. Einige Tage verbrachte ich danach in mentaler Schockstarre, obwohl ich mit diesem Wahlergebnis sogar gerechnet hatte. Weiterer aufarbeitender Worte bedarf es vermutlich nicht, ich könnte es auch nicht so schön sagen wie bei Thorstens Blog, Herzbruch und Buddenbohm. Die drei sind verärgert, verwundert, verblüfft und enttäuscht und gehen unterschiedlich mit diesen Emotionen um. Einer der Wege ist es, den Nachrichtenkonsum auf ein aushaltbares Maß zu verringern, und da haben wir es wieder, mein Monatsmotto. Mit der Politik versöhnte mich am Ende Loriot. In diesem TikTok-Filmchen spricht er über Politik im Allgemeinen und im Fernsehen, und warum er sich lieber über die Wählenden statt über die Politik lustig macht. Ich mag den Mann.
Trotzdem besann sich mein Körper kurz nach der Wahl auf das ihm wohl längst bekannte Monatsmotto und beschloss, Schwindel zu entwickeln und nicht mehr verschwinden zu lassen. Ein enttäuschendes Erlebnis, hätte ich mir die Birne zugeballert, hätte es sich wenigstens gelohnt. Eine ergebnislose HNO-Untersuchung und einige Tage später verschwand das alles wie von allein. Brauchte wohl auch mal Freiraum, der Kopf.
Als Freund von Apple-Geräten schaute ich die diesjährige WWDC, eine der zwei großen Werbeveranstaltungen des Jahres, und war beeindruckt von den Funktionen des maschinellen Lernens, die im Winter eingeführt werden sollen. Einige Tage später verkündete Apple, übrigens eines der wertvollsten Unternehmen dieser Erde, dass ein Großteil der Funktionen womöglich nicht in Europa Einzug halten werde. Wegen des DMA (Gesetz über digitale Märkte).
Und jetzt bin ich hin- und hergerissen. Die neuen Spielereien fand ich toll und hätte sie gern. Aber dass die EU ein schwergewichtiges Unternehmen wie Apple zu solch einem Schritt bringen kann, das freut mich auch. Weil das Gesetz sofort Wirkung zeigt. Und weil das Unternehmen damit zugibt, dass die neuen Funktionen gegen dieses Gesetz verstoßen, wieso sollten sie sie sonst zurückhalten. Und das wiederum bedeutet, dass sie zumindest in diesem Bereich als Torwächter auftreten und keine fairen Wettbewerbsbedingungen ermöglichen wollen. Natürlich möchte Apple die User mit dem Vorgehen gegen dieses Gesetz und damit gegen die EU aufbringen, aber zumindest bei mir funktioniert das nicht.
Im Juni hörte ich ein Hörbuch, das das Zeug zu meinem persönlichen Hörbuchhighlight des Jahres hat. „Hannes“ von Rita Falk (ja, die mit dem Eberhofer) hat mich angerührt, vielleicht auch ein bisschen durch-. Ein sehr warmherziges Buch, wunderbar vorgelesen von Johannes Raspe. So ist das mit der Kunst: Bringt sie etwas in dir zum Schwingen, erfreu dich dran. Und darum freue ich mich über den Zufallsfund in der Onleihe.
Freiräume nehmen, das ist auch, wenn man sich Zeit für Sport einräumt. Wobei. Es ist ja nicht so, dass irgendwer keine Zeit dafür hätte, wir haben die alle, es ist halt eine Prioritätenfrage. Stolz machte ich also Zeit für den Sport frei, völliger Unsinn, wie gesagt, aber es klingt besser, und blieb sogar bei dem Plan. Das tat mir sehr gut. Ich merkte noch keinen direkten Effekt, außer einer mentalen Befriedigung und einem langsamen Hineinwachsen in den Trainingsrhythmus, als ich mich mit Corona ansteckte.
Erstmals in meinem Leben, möchte ich betonen, zumindest erstmals mit Test bestätigt, das ließ sogar die geschäftige Ärztin kurz aufhorchen. Dann ergänzte sie, dass es beim ersten Mal ja etwas fieser werden könne, das hatte ich leider vergessen. Ihr kennt das sicher alle, aber für mich ist es neu: Diese Krankheit fühlt sich ja jeden Tag anders an! Es begann mit Fieber (erwartet) und un-end-li-cher Müdigkeit (überraschend, aber akzeptabel), ging am nächsten Tag weiter mit Nasenbluten (wtf) und Schwindel (dein Ernst, siehe oben), Tags darauf bekam ich Ohrenschmerzen und Tinnitus (WTF?!). Ohrenschmerzen? Ich habe nie Ohrenschmerzen! Ich weiß auch gar nicht, was man dagegen machen kann. Das Internet sagt, kühlen oder wärmen. Danke, Internet. Flankiert werden diese Tage mit einem ständigen neben-sich-Stehen, das kenne ich zwar schon, aber auf Länge irritiert es doch sehr.
Bis vor einigen Tagen dachte ich, dieser Rückblick würde wohl mit einer leidend verfassten Symptomliste enden, aber ich hatte den Bachmannpreis vergessen. Was für ein schönes Event! Der Bachmannpreis, das ist Germany‘s Next Topmodel für Literatur, ohne überflüssigen Glamour, ohne langweiliges Casting und ohne spitze Schreie. Dafür gibt es genau so viel Tratsch, eine sehr angenehme mediale Begleitung in den sozialen Medien, auch mal Tränen, eine mehrtägige, werbeunterbrechungsfreie Liveübertragung, und – und das ist das Beste – vierzehn tolle Autor:innen mit völlig unterschiedlichen Texten, die sie vor Publikum und Jury vorlesen. Die besteht übrigens aus sieben Personen. Ein tolles Event, ich wiederhole mich, aber als ich am ersten Tag fiebrig vom Sofa aus zuschaute, dämmerte mir: Ich fühl mich zwar scheiße, aber dafür kann ich das hier alles mitverfolgen. Nächstes Jahr nehme ich mir eventuell Urlaub dafür.
Der erheiterndste Text war zweifellos „Das Gurkerl“ von Johanna Seebauer, in dem die Eskalation rund um einen völlig belanglosen Gegenstand erzählt wird: eine saure Gurke. Auf der Seite des Bachmannpreises gibt es die großartig vorgetragene Lesung, den Text und die Jurydiskussion. (Es möge bitte die Hand heben, wen die Geschichte auch an das Weihnachtsbeleuchtungswettrüsten in Stenkelfeld erinnert.)
Alle weiteren Lesungen und Diskussionen sind ebenfalls auf der Website abrufbar, da kann man sich schon mal ein paar Stunden tummeln. Viel Spaß!
Interessant, wie unterschiedlich Sichtweisen so sein können: Ich war von den angekündigten neuen Features in bezug auf ,,KI“ eher unterwältigt.
Böse Zungen (davon gibt es allerdings einige) behaupten ja, Apple würde den DMA nur als Ausrede vorziehen, weil das alles noch nicht so gut funktioniert wie es soll.
Immerhin hat noch *kein* Anbieter das Problem mit dem sog. ,,Halluzinieren“ der ,,Sprachmodelle“ in den Griff bekommen.
Microsoft ist nach ihrem Recall-Debakel auch zurück gerudert.
Was aber wichtiger ist: Ich wünsche Dir gute Besserung!
Danke dir! Ich hab schon wieder Lust auf Eis, es kann gar nicht mehr schlimm sein.
Die neuen Sachen, die Apple da einführen will, waren allesamt keine Überraschungen, funktionsmäßig, das stimmt. Aber vielleicht ist das ihr Versuch, das „Halluzinieren“ zu vermeiden. Die Teile der KI, die auf den Geräten selbst laufen, sind von ihnen selbst programmiert, wenn ich das richtig verstanden habe, und da wollen sie das bestimmt verhindern – darum keine großen Sprünge. Und immer dann, wenn man eine Anfrage an ChatGPT sendet, muss man mit Halluzinationen rechnen.
Falls die Gerüchte in Sachen DMA-Vorschub stimmen, hieße das nicht auch, dass Apple ihre unfertige Technik problemlos auf die USA loslässt, aber einen willkommenen Grund gefunden hat, es in anderen Teilen der Erde, also Europa, noch nicht zu veröffentlichen? Das glaube ich nicht. Gerade USA ist ihnen doch auch sehr wichtig. Wenn es so wäre, dann würden sie die Funktionen doch vielleicht erst in, ich weiß nicht, Grönland testen wollen oder so 😉