Germany’s Next Topmodel und warum Fernsehen ohne Twitter doof ist

«Ich habe heute kein Foto für dich.»

Ein Satz, der Tränen fließen lässt, einerseits bei den Kandidatinnen von Deutschlands erfolgreicher Casting Show „Germany’s Next Topmodel“, im Internet nur kurz GNTM, andererseits natürlich bei den Zuschauerinnen und Zuschauern.

https://twitter.com/sVanillechen/status/451798914199719936

Castingshows sind aus Gründen, die manch einer zweifelhaft finden mag, seit Jahren in Mode und scheinen ihren Zenit zwar vielleicht erreicht, aber noch nicht lange überschritten zu haben. Kurz: sie werden gesehen. Heutzutage kann man sich ja quasi zu allem casten lassen, Supertalente, Sänger, Tänzer, ich glaube sogar für Köche gibt es das. Eigentlich fehlen dabei noch so abgefahrene Jobs wie zum Beispiel Programmierer.

In „Deutschlands neuer erfolgreicher Runtime-Designer“, kurz „D-NERD“, könnten die Kandidaten zum Beispiel in Disziplinen antreten wie: Programmierungsgeschwindigkeit; Anzahl der Computersprachen, in denen man sich fließend verständigen kann; beste selbst geschriebene und veröffentlichte WhatsApp-Alternative; lauffähige Paywall-Idee für News-Anbieter inklusive digitaler Geldbörse; lauffähige Softwareprogrammierung nach individuellem Kundenwunsch (hier könnte der Schwierigkeitsgrad von „20-Jähriger“ über „Businessman“ zu „75-Jähriger“ erhöht werden) innerhalb einer Woche. Einzig die Programmierarbeit selbst wäre nicht so anschaulich, aber das ließe sich durch’s Kamerateam mit geschickter Anordnung von leeren Pizzakartons und diversen Energydrink-Dosen sicher aufhübschen.

In „Deutschland im Vergangenheits-Erlebnis“, kurz „DIVE“, könnten die Kandidaten bei der Suche nach den tiefsten und ältesten verschollenen Schiffen der Weltmeere um die Gunst der Zuschauer tauchen. Als Disziplinen böte sich Apnoe-Tauchen wegen des Stresses an, den das beim Zuschauer verursacht, außerdem natürlich Meereskunde, Haifisch- und Piranha-Schwimmen oder „Untertauchen mit den Fans“ zusammen mit ausgewählten Zuschauern. Die Kandidaten würden in der Show einmal um die Welt reisen, die schönsten Strände und Korallenriffe besuchen und natürlich extrem gut gebaut und durchtrainierte Poserfotos schießen können – lauter geiles Bildmaterial also. Ich weiß gar nicht, weshalb noch niemand auf die Idee gekommen ist, DIVE zu starten, die Voraussetzungen sind ideal.

Die krönende Show wäre „Auf der Suche nach terrestrischen Refugien im Orbit“, kurz „ASTRO“ – hier würden sich Astronautenanwärter beweisen können, zunächst hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Eignung als Astronaut und später dann bei der Suche nach Planeten, auf denen die Menschen nach der endgültigen Zerstörung der Erde leben könnten. Diese Show würde natürlich nicht nur einige Wochen, sondern eher ein paar Jahrhunderte laufen müssen. Aber dafür böte sie unglaubliches Bildmaterial, spektakuläre Disziplinen wie das Schweben im no-gravity-Raum oder überhaupt das Aushalten mehrerer G beim Start der Rakete. Außerdem könnte das Team im All lustige Experimente mit schwerelosen Dingen machen oder endlich live zur Erde streamen, dass eine Explosion im luftleeren Raum tatsächlich nicht mit Feuer brennt. Ein Traum für jeden Produzenten!

Aber ich schweife ab.

Castingshows erfreuen sich also ständiger Beliebtheit. Warum eigentlich? Erstens glaube ich, liegt es an den „Persönlichkeiten“, die man da in sein Wohnzimmer geliefert bekommt. In fast jeder Show, egal ob für Models, Sänger oder alle restlichen Superstars, die man sonst in kein Genre pressen konnte, gibt es grob die gleichen Charaktere (und Charakterinnen natürlich, bitte hier jeweils auch die weibliche Form gedanklich mitlesen): Den Charming-boy; den Milchbubi; den dümmlichen Sympathikus; den Oberflieger, der am Ende aber trotzdem auf die Nase fällt; den arroganten Besserwisser; den Kandidaten, der als Model besser gesungen, als Sänger besser gesuperstart und als Superstar besser gemodelt hätte; nicht zu vergessen natürlich den Normalo, denjenigen, der am Ende nicht gewinnt, weil er nicht „edgy“ genug ist. Also ein ganz normaler Querschnitt durch unsere Gesellschaft – so stellen es sich die Produzenten jedenfalls vor.

Zweitens nehme ich an, dass man sich gerne mit sozialem Leben berieseln lässt, an dem man selbst aber nicht teilzunehmen braucht. Der Mensch ist ein Gesellschaftstier, das beweisen all die Second Life- und MMORPG-Süchtigen zusammen mit den unzähligen Scripted Reality-Soaps im Fernsehen, von denen es nach meiner rein subjektiven Einschätzung sogar noch mehr gibt als Castingshows. Wenn sich jemandem nach einem langen Arbeitstag die Möglichkeit bietet, an sozialem Leben teilzuhaben, dabei aber paradoxerweise auf dem Sofa liegend Schokolade essen zu können und keine Silbe sprechen zu müssen, dann ist das eine sehr verlockende Alternative zum erneuten vor-die-Tür-Gehen, sich in die nächste Kneipe zu begeben und am Ende auch noch mit Menschen zu kommunizieren, sei es auch nur der Fingerzeig zum Barkeeper ins leere Bierglas.

Drittens, und das gilt natürlich für alle jemals weltweit ausgestrahlten Ablauf-Serien jeder Art, gibt es einen Cliffhanger am Ende einer Episode, um den geneigten (und vielleicht mit etwas Glück sogar den weniger geneigten) Zuschauer dazu zu bewegen, auch beim nächsten Mal einzuschalten. Dagegen kann man wohl kaum etwas sagen – so behält man Zuschauer bei der Stange und bei der Werbung und schon sind wir beim Geld. Es lässt sich offenbar richtig Kohle machen mit diesem Format, sonst würden Lizenzen für Castingshows – und andere Shows! – aller Art nicht rund um den Globus zwischen den Fernsehanstalten hin und her verkauft wie warme Semmeln. „Wer wird Millionär“ zum Beispiel, also ein Format völlig ohne Castinghintergrung, kommt im Original aus Großbritannien. Bei Wikipedia gibt es eine Karte der Länder, die die Millionärsrateshow kopiert haben (lila):

Es sind über hundert Stück. Allein von den Lizenzrechten könnte man womöglich Instagram kaufen. Dieter Bohlen sitzt seit zwölf Staffeln und ebenso vielen Jahren auf dem Jurorenstuhl bei „Deutschland sucht den Superstar“, 2015 kommt die nächste Staffel. Mir kann keiner erzählen, dass er das rein aus Spaß an der Freude immer noch macht.

Aber zurück zum sozialen Leben im Fernsehen. Denn das ist ja – wie das Medium Fernsehen selbst – natürlich eine Illusion, und das gleich mehrfach. Weder die Anteilnahme ist echt, noch das Leben. Wenn sich bei Germany’s Next Topmodel das eine Mädchen… sie nennen sich dort gegenseitig immer Mädchen, nun gut, man könnte auch „junge Dame“ sagen, aber das passt irgendwie nicht… also, wenn sich dort das eine Mädchen mit dem anderen Mädchen in den Haaren hat, weil das dritte Mädchen dem vierten Mädchen gesagt hat, das zweite Mädchen hätte über das erste gesagt, es hätte ja mit der neuen Frisur gar keine Chance mehr beim nächsten Casting mit der „finanziert durch Produktplatzierungen“-Marke, dann, ja, was dann? Warum stehen wir auf so einen Trash? Ist es am Ende doch echtes Leben? Sind wir so kleinkariert? Ich hoffe nicht! Ist es echte Anteilnahme? Auch das hoffe ich nicht! Neulich mussten die Mädchen dort auf Knopfdruck weinen lernen, eine Episode, in der produzentenseitig noch einmal ganz besonders auf die Tränendrüse gedrückt wurde. Wer da zu sehr mit geht, dem geht es ein paar Tage schlecht (vielleicht ist das der Grund, weshalb die Episoden nur ein Mal in der Woche ausgestrahlt werden).

Nein, der Zuschauer muss den Boden unter den Füßen behalten. Und genau da lobe ich mir die Twitter-Timeline. Es ist so wunderbar erfrischend, sich eine Show anzusehen, bei der die Macher alles daran setzen, mit melodramatischer Hintergrundmusik in herzerweichenden Momenten tiefe Traurigkeit zu erzeugen – und dann kommt ein dahergelaufener Twitterer und versaut ihnen komplett die Szene mit einem hingerotzten Kommentar, der der ganzen Geschichte eine völlig neue Drehung verpasst. Bissig, lustig, auch mal abwertend und böse – so ist Twitter.

https://twitter.com/Currentis/status/451818559203966979
(Hier funktionierte die Tweet-Anzeige nicht, warum auch immer.)

Und das liebe ich so am Fernsehen mit Twitter. Es ist wie mit einer Meute betrunkener Seefahrer in die Wiener Staatsoper zu gehen (wobei ich es jedem offen lasse zu interpretieren, wer in diesem Beispiel wer ist). Jede Show, die live im Fernsehen kommt, hat ihren eigenen Hashtag, kann damit auf Twitter gefunden werden und wird in Echtzeit mitkommentiert. Stefan Raab sucht in „Schlag den Raab“ jemanden, der ihm das Wasser reichen kann, nebenan bekriegen sich Joko und Klaas einmal um den Erdball und auf dem Nachbarsender versucht Herr Müller sich an der 64.000 €-Frage. Überall schaut Deutschland zu und es ist wie in einem großen Wohnzimmer: Alle schreien durcheinander, kommentieren, finden toll, unverantwortlich, lustig, traurig – es ist ein riesiges Gewühl.

Einziger Wehrmutstropfen: Was, wenn ich nicht mitmache? Leuten, die sich über ihre Timeline beschweren, weil alle gemeinsam ein Programm schauen, das man selbst aber mitverfolgen möchte oder kann, empfehle ich den Mute-Filter. Er blendet alle Hashtags aus, die man nicht sehen möchte. Mir hilft das immer sehr.

Also? Fernsehen geht ohne Twitter. Insbesondere Filme (für mich). Aber Shows, am besten Castings, sind zwar auch mit ausschließlich real anwesenden Personen lustig, können aber um ein Vielfaches bunter werden, wenn man ein soziales Netzwerk dazu holt.

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