Im Blog Neon|Wilderness wird regelmäßig zum Schreiben über ein Wort aufgerufen. Diesmal lautet es »Gratwanderung«.
Bei dem Wort denke ich zuerst an ein Foto, mit dem ich beruflich zu tun hatte. Zu sehen ist darauf eine schneebedeckte Bergkette, der Fotograf befindet sich auf halber Höhe über den Wolken auf einer Bergkuppe. Links und rechts geht es bergab, nur geradeaus führt ein Weg nicht allzu weit – auch an seinem Ende geht es bergab. Es könnte das Tor zum Himmel sein. Oder eben eine Gratwanderung.
Das Teekesselchen beschreibt aber nicht nur der Körperertüchtigung dienende Tätigkeiten in freier Natur, sondern auch schwierige Situationen, die umschifft oder gemeistert werden wollen, in denen bereits ein einziger Fehltritt zum gegenteiligen Ergebnis führen kann. Das vielzitierte »Schatz, findest du, ich sehe in dem Kleid dick aus?« ist der Inbegriff einer solchen Situation – zumindest, wenn das Kleid der oder dem Fragenden tatsächlich nicht vorteilhaft steht. Wie soll der Gefragte reagieren? Die Wahrheit ist möglicherweise nicht gewünscht in dem Moment, eine freundliche Lüge vielleicht gewollt, aber ist das die richtige Reaktion?
Eine Gratwanderung ist auch das Führen eines Gesprächs mit schwierigem Inhalt, zum Beispiel wenn der Chef seinem Mitarbeiter dessen Fehlverhalten deutlich machen muss, aber nicht in die Falle der inneren Kündigung tappen möchte. Brenzlige Situationen gibt es zu Hauf, Stolpersteine sind garantiert.
Gratwanderungen gibt es aber auch in jedem Menschen: Überlegungen, von denen selten jemand etwas sieht, innere Kämpfe über große Entscheidungen, auch das Ringen mit Krankheiten. So wird der Alkoholsüchtige sich oft einem neuen Kampf stellen müssen, auch der Krebskranke kämpft Seite an Seite mit der Medizin um sein Leben. Und genau so ergeht es an Depressionen erkrankten Menschen ebenfalls.
Sie kämpfen wie die anderen um ihr Leben, innerlich und mit vollem geistigen Einsatz. Was von außen bisweilen nur schwer wahrnehmbar erscheint, ist im Innern umso brutaler: Scheint der Depressive schwer den Weg aus dem Bett zu finden, ist das kein Zeichen von Faulheit, sondern von völliger Übermüdung schon gleich nach dem Aufwachen. Dass Depressive oft sehr müde sind, ist ein Zeichen der Erschöpfung durch das ständige Kämpfen mit den inneren Mächten. Ist der Depressive oft scheinbar grundlos traurig, ist das ein Zeichen der sich im Inneren abspielenden Gefühlswelt aus Furcht, Trauer und Perspektivlosigkeit, die sich oft wie ein Gefängnis um die eigene Seele aufbaut.
Die Depression ist daher der Inbegriff einer Gratwanderung. Auf der einen Seite das Leben, die Freude, das Licht. Auf der anderen Seite die Schwärze, die Trauer und der Tod. Beide Seiten ziehen den Kranken zu sich hin und so ist es Aufgabe der Helfenden und des Erkrankten, mit aller zur Verfügung stehenden Kraft in die richtige Richtung zu ziehen, Feuer aus allen Rohren sozusagen. Denn die falsche Seite ist stark, sie spielt unfair und ist obendrein auch noch tückisch.
Depressionen lassen sich mit unzähligen Mitteln bekämpfen und sie alle müssen mit Bedacht angewendet werden. Die üblichen Verdächtigen sind hier natürlich Gesprächstherapie, Medikamente und auch (stationäre oder ambulante) Rehabilitationsmaßnahmen. Aber auch Spaziergänge in der Sonne, Shoppingtouren im echten Leben oder im Internet, Fernsehabende, Bücherlesen, Tage ohne Bedingungen und Aufgaben, Hinnehmen der Gegebenheiten, Entspannungstechniken, Briefe und Botschaften, Spielzeuge, Kaffeetrinken, Loslassen alter Gewohnheiten, sich frei machen… dies alles und viel mehr zieht in die richtige Richtung. Einzusetzen immer nur wenn möglich und gewollt, ganz nach tagesaktueller Verfassung.
In meinem Verständnis gibt es also Gratwanderungen, deren Ziel geradeaus vor einem liegt, der Absturz an beiden Seiten ist gefährlich. Es existieren aber auch Gratwanderungen, bei denen es das Ziel ist, in eines der beiden Täler hinabzusteigen – es muss nur bloß das richtige sein.
Foto: PDPhotos / pixabay