Kollektive Euphorie, kollektive Identität oder: schwule asiatische Oldtimerfahrer, die jubelnd an europäischen Kassen bezahlen

Ich stehe im Supermarkt in der Schlange und inspiziere beim Bezahlen jede einzelne Münze ganz genau, ebenso das Wechselgeld. Die Kundin nach mir geht genauso vor, die Kassiererin ist sich ihrer Sache schon sicherer. Es ist Anfang Januar 2002, der Euro wurde gerade als Zahlungsmittel eingeführt.

Für wenige Tage entstand dadurch ein komischer Effekt: Wildfremde Menschen fühlten sich einander zugehörig und verbunden, weil anfangs niemand die 20- von den 50-Cent- und die ein Euro- von den zwei-Euro-Münzen unterscheiden konnte – und die Scheine sahen eh gleich aus. Wir waren mit dem Münzgeld alle überfordert, wie bis dahin bei jedem Kurzurlaub in den Niederlanden. Es wurde gelacht und sich angeregt über die neuen Münzen und Scheine unterhalten. Wir steckten gemeinsam im selben, harmlosen Schlamassel, waren über Nacht zu einer Art Leidensgruppe zusammengewachsen.

Effekte wie diesen gibt es überall: Busfahrer grüßen sich, weil sie im gleichen Unternehmen arbeiten, bei Motorrädern und Oldtimern ist es ebenso, im Stadion liegen sich Fans gleicher Mannschaften in den Armen, zum Jahreswechsel wünscht man Fremden alles Gute, in schwulen Szenekneipen fühle ich mich unter Gleichgesinnten und genauso kann es zugereisten Asiaten in allen Chinatowns dieser Welt gehen.

Was ist das für ein Phänomen?

In dieser Masterarbeit zur „Kollektiven Identität in der Europäischen Union“ (Uni Wien, 2013) versucht die Autorin ab Seite 11 eine Definition und benötigt dafür dreieinhalb Seiten. Sie schreibt, dass selbst mit einem thematisch eingeschränkten Blick, hier dem politikwissenschaftlichen, die Meinungen der Fachleute nicht nur auseinandergehen, sondern manchmal sogar gegensätzlich sind. Witzig, dass dieser scheinbar einfache Effekt wohl nicht klar definiert werden kann, jedenfalls damals noch nicht.

Eine der in der Arbeit genannten Quellen nennt fünf Anhaltspunkte, die das Gefühl einer kollektiven Identität begünstigen. Ich paraphrasiere:

  1. Menschen müssen das Gefühl haben, dass ihre eigene Identität zu der anderer Menschen passt.
  2. Daraus ergibt sich der Eindruck einer Gruppenidentität und damit eines Gruppenselbstbildes.
  3. Damit dieses bestehen bleiben kann, müssen die Gruppenmitglieder sich der Gruppe zugehörig fühlen können.
  4. Das Gruppenbild muss als „kostbar“ wahrgenommene Gemeinsamkeiten aufweisen, die also einen Mehrwert gegenüber dem Einzeldasein mitbringen. Bei sehr großen Gruppen (in dieser Arbeit geht es ja um die Europäische Union), in denen man viele oder die meisten Mitglieder nicht persönlich kennt, werden den anderen diese Gemeinsamkeiten einfach unterstellt.
  5. Es findet eine klare Abgrenzung zwischen „uns“ und „den anderen“ statt. Dafür wird eine Binnendefinition benötigt („wer sind wir“) und eine Außenabgrenzung („wer sind die anderen“).

Das ist also kollektive Identität, und damit ein eher langfristiges Gefühl innerhalb einer Gruppe. Beim Wechsel von der Deutschen Mark zum Euro entstand kollektive Euphorie, die vereinfacht gesagt das gleiche ist, nur kurzfristiger funktioniert. Übertragen auf die obigen Punkte sah das beim Eurowechsel so aus:

  1. Ich kenne mich mit den Münzen nicht aus und den Leuten vor und nach mir geht es genauso.
  2. Wir sitzen also im gleichen Boot.
  3. Wir lächeln entschuldigend, dass es an der Kasse länger dauert als normal. Mir ist das unangenehm, den anderen aber offensichtlich auch. Wir versichern uns gegenseitig, dass die längere Zeit kein Problem ist.
  4. Dadurch, dass wir plötzlich alle länger brauchen als normal, können wir verschmitzt darüber lächeln und scherzen. Niemand ist ausgenommen, sogar die Kassiererin hat noch ihre Probleme. Ich kenne die anderen Personen in der Schlange nicht, aber wir stecken irgendwie „unter einer Decke“.
  5. Ich unterstelle, dass dieses Problem in allen zwölf EU-Staaten entsteht, die zum 1. Januar 2002 den Euro eingeführt haben. „Die anderen“, das sind all diejenigen Länder, die keine Umstellung vorgenommen haben.

Die Übersetzung in einen realen Fall ist ziemlich einfach. Als ich das erste Mal über das Phänomen nachdachte, ging es mir aber nicht um diesen Eurowechsel, sondern um aktuelle Themen in unserer Gesellschaft. Wie war das in der Corona-Pandemie? Menschen klatschten auf Balkonen, gingen rücksichtsvoller miteinander um, passten aufeinander auf – man saß ja gemeinsam in der Tinte. Danach formten sich Gruppen, negativ ausgedrückt könnte man sie Lager nennen, die verschiedene Maßnahmen befürworteten oder ablehnten. Mir scheint, das waren vorwiegend Fälle kollektiver Euphorie, denn die meisten dieser Gruppierungen gibt es nicht mehr.

Und wie ist es in der aktuellen politischen Lage, in Deutschland, in Europa und international? Sprechen wir da noch von kollektiver Euphorie, die temporäre Begeisterung für ein Thema oder eine Sache mit sich bringt, oder sind wir da schon bei kollektiver Identität, die langfristigen Zusammenhalt in Gruppen und Gesellschaften fördert? Wird die euphorische Welle derjenigen, die antidemokratisch denken, handeln oder sogar wählen, bald auslaufen oder hat sich bereits eine Identität gebildet? Richten Parteien ihren Wahlkampf auf kurzzeitige Euphorie oder auf langfristige Identität aus?

In jedem Fall lassen sich mit diesen Effekten der eine oder andere Capitolsturm oder auch so manche Frustwahl erklären.

(Beim Nachschlagen von Infos zu den beiden Begriffen bin ich über einen dritten gestolpert, die soziale Kohäsion. Sie scheint noch langfristiger und vor allem breiter angelegt zu sein als die kollektive Identität, aber das ging mir für diesen Artikel doch etwas zu weit.)

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