Du bist glücklich und zufrieden in einer vielfarbigen Welt aus Freude, Freundschaften und Herzenswärme. Es geht seinen Gang mit den üblichen Höhen und Tiefen, doch alles in allem bist du froh und spürst höchstens den leichten Hauch einer Idee, etwas könnte nicht in Ordnung sein. Aber was soll das schon sein. Jahr für Jahr gräbst du dich blind wie ein Maulwurf durch die Zeit, nur deinen Instinkten folgend. Es wird schon richtig sein, meist bist du dir sicher. Aber das unwohle Gefühl tropft ganz hinten in der Höhle deines Unterbewusstseins, langsam aber stetig bilden sich ein Stalagmit und ein Stalaktit in Form eines Ausrufezeichens. Doch sie sind unbeleuchtet, unbeachtet, ungesehen. Drip-drip, drip-drip.
Fern jeder Höhlenkunde glaubst du, dass alles perfekt ist. Du hältst dich an deinen Lebensplan in der Welt, die du dir gebaut hast. Auch wenn du dich manchmal ausgelaugt fühlst, in einiger Zeit wird Ruhe einkehren. Täglich bewegst du dich inmitten von Sonnenschein, Zuneigung und Gelassenheit. Die Veränderungen an dir willst du nicht bemerken. Willst nicht die fernen Sirenen hören, nicht dein Herz in fremdem Rhythmus schlagen fühlen, nicht die fragenden Gesichter der anderen sehen. Und doch riechst du die Fäulnis im Geflecht deines Lebensplans, ganz am Ende deiner geliebten Welt.
Eines Tages dann wachst du auf und alles ist anders. Du bist umgeben vom faulen Gestank der Infektion, vor der du so lange die Augen verschlossen hieltest. Du versuchst, deine dir so vertraute Welt wieder zu finden und irrst herum, aufgebracht, überrumpelt, voller Angst. Dein gestern noch helles und von Lachen durchflutetes Leben scheint ausgetrocknet, düster und kalt. Du stolperst blindlings und barfuß in einer öden, steinigen Wüste herum und suchst das Dagewesene, das Vergangene, das Wahre. Da sticht ein Gedanke dein Gehirn wie ein giftiger Stachel: Was ist das Wahre? Panik steigt in dir auf und du fällst hin, liegst schwer atmend im Staub, hustest. Was, wenn du bis gestern geträumt hast und nun erwacht bist. Was, wenn dies echt ist. Was dann.
Wochen und Monate vergehen bei der Suche nach deinem Leben, nach der alten Freude und deinem Lebensplan. Doch die Wüste bleibt. Sie ist groß und gefährlich. Unzählige Male kommst du ab von den schmalen Pfaden, die du dir anlegst. Mal verirrst du dich im Dickicht stacheliger Dornen und reißt dir die Haut auf, bis sie blutet; mal liegst du nackt und zusammengekauert auf dem Boden und trauerst um dich selbst; mal hagelt es dunkle Gesteinsbrocken und du findest keinen Schutz. Abend für Abend versickern deine Tränen im trockenen Boden, ganz so als hätte es sie nie gegeben. Oft willst du aufgeben und diese Folter beenden. Es wäre ein Sieg über die Ödnis, doch der Preis dafür ist so hoch wie kein anderer. Pläne entspinnen sich, lösen sich auf, bilden sich neu. Die Möglichkeit, schlussendlich einen letzten, alles beendenden Befreiungsschlag auszuführen, gibt dir eine gelbgrüne, trügerische Sicherheit. Einige Male erhält sie ein grausames Eigenleben und beschließt, glaubt, zerstört, weiß und denkt für dich. In diesen Momenten bist du nicht du selbst, in diesen Momenten lebst du auch nicht mehr in der kargen Wüste sondern befindest dich in einer Welt, die angefüllt ist mit Hass, Trauer, Wut und weiß brennendem Licht. Du fühlst dich dort gleichermaßen wohl und unwohl; diese Welt ist eine warme Pause zu deinem jetzigen Leben, doch bedeutet sie das Ende, wenn du zu lange hier verweilst. Jedes Mal findest du den Weg zurück in die Wüste und bist darüber genau so froh wie enttäuscht. Vielleicht, denkst du, vielleicht bleibe ich irgendwann dort. Doch mit der Zeit beschließt du, die Suche nach deinen Ursprüngen aufzugeben. Dich damit abzufinden, dass du in der Wüste verweilst. Du versuchst, die Welt um dich herum, deine Wunden, deine Trauer und dein Sehnen zu akzeptieren. Mit dieser Entscheidung scheint es, als würde in den immerschwarzen Himmel ein wenig Grau gemischt.
Deine neue Welt verändert sich: Vereinzelt kannst du Farben erkennen, manchmal trägt der schwarze Himmel einen grauen Schleier und deine Tränen bewässern nun das Land. Auch du veränderst dich: Du frierst weniger, verläufst dich seltener und ab und zu huscht sogar ein kleines Lächeln über dein Gesicht, wenn du eine neue lebenswerte Nuance entdeckst. Doch Akzeptieren benötigt Zeit. Viel Zeit. Du nimmst sie dir in kleinen Portionen, betrachtest immer wieder deine jetzt echte Welt, dein geschundenes Ich und deine Trauer. Jahrelang entdeckst du viele schöne, unbekannte Orte und treibst nur noch selten zwischen den Welten, ziehst dir aber auch neue Wunden zu.
Eines Tages wagst du dich in dich selbst hinein und stellst eine kleine Kerze in die Höhle deines Unterbewusstseins – gleich neben das Ausrufezeichen, das nun einen tanzenden Schatten an die Wand wirft. Er soll dich erinnern an die Momente der Angst, der Panik und der Suche nach dir selbst; an das, was hinter dir liegt. Vor allem aber soll er dich erinnern an das, was vor dir liegt.
Klasse Text, toll geschrieben, trotz des wenig optimistischen Inhalts. Hat mich sehr beeindruckt.
Poetischer Text mit düsterem Inhalt.
Wem es so ergeht wie dort beschrieben, dem wünsche ich, dass die kleine Kerze zäh ist und dass sie – entgegen der üblichen Praxis – mit längerem Brennen nicht kleiner und schmächtiger, sondern größer und heller werden möge.